Die Zeitspanne von der Produktidee bis zur Markteinführung wird immer kürzer – dieser Trend prägt Märkte und Branchen weltweit. Wie viel Zeit zum Programmieren von Maschinensoftware und für die Entwicklung von Hardware aufgewendet wird, kann zum entscheidenden Wettbewerbskriterium werden – je kürzer, desto besser. Digitale Zwillinge helfen dabei, Software und Hardware für Maschinen schnell zu entwickeln und zu testen.
Nur mit hocheffizienten Prozessen lassen sich die immer enger gesteckten Zeitfenster für die Entwicklung von Maschinen erreichen. Fehlschläge müssen von vornherein ausgeschlossen werden. Bereits der Prototyp einer neuen Maschine muss deshalb schon einwandfrei funktionieren. „Um diese hochgesteckten Ziele zu erreichen, hat sich in vielen Disziplinen eine Methode bewährt – die Simulation“, sagt Kurt Zehetleitner, Verantwortlicher für den Bereich Simulation und modellbasierte Entwicklung bei B&R. In der virtuellen Welt werden anhand eines digitalen Zwillings Produkteigenschaften überprüft, ehe auch nur ein physisches Teil existiert.
In der Automobil- und Flugzeugindustrie ist dieser Ansatz für die Entwicklung der Mechatronik bereits gängige Praxis. Maschinensysteme werden am Computer modelliert und in der Simulation getestet. Im Maschinen- und Anlagenbau hingegen muss dieses Entwicklungskonzept erst noch Fuß fassen. Das liegt nicht zuletzt an einer weit verbreiteten Meinung: Simulationsmodelle zu erstellen, sei zeitaufwendig und setze voraus, dass der Entwickler höhere Mathematik beherrsche. Dennoch seien die Simulationsmodelle sehr fehleranfällig. „Früher war dies tatsächlich der Fall, aber heutzutage lassen sich Simulationsmodelle einfacher und schneller erstellen“, so Zehetleitner.
Digitaler Zwilling verkürzt Inbetriebnahme
Mit modernen Simulationswerkzeugen können heute mit wenig Aufwand digitale Zwillinge erschaffen werden. Damit wird die Entwicklung von Soft- und Hardware sowie die virtuelle Inbetriebnahme einer Maschine wesentlich einfacher und effizienter. Das physikalische Verhalten einer Maschine kann in Echtzeit simuliert werden. Engpässe und Optimierungspotenzial lassen sich so sehr früh in der Entwicklungsphase einer Maschine erkennen. „Simulation steht für eine unbegrenzte Vernetzung der Entwicklungskomponenten, bietet hohe Flexibilität und eine effiziente Ressourcenverwaltung. Diese Eigenschaften ermöglichen eine optimale Nutzung des Entwicklungspotenzials und können die Inbetriebnahmezeit der Maschine um bis zu 80% verkürzen“, erklärt Zehetleitner.
In der B&R-Entwicklungsumgebung Automation Studio bietet sich dem Anwendungsprogrammierer mit einem digitalen Zwilling ein entscheidender Vorteil: Er kann das virtuelle Modell sofort am PC starten und sich mit der Maschinensteuerung in einer Software- und Hardware-in-the-Loop-Konfiguration verbinden. So können Entwicklung, Verifikation sowie Test der Applikationssoftware genauso im Vorfeld durchgeführt werden, wie der Test der Performanceanforderungen auf der Steuerung.
Für die Erstellung eines digitalen Zwillings importiert der Entwickler die CAD-Daten einer Maschine in ein Modellierungswerkzeug, zum Beispiel in MapleSim. Er kann die wesentlichen Eigenschaften der CAD-Konstruktion wie Masse und Dichte weiterverwenden und die einzelnen Teile der Konstruktion mit zusätzlichen Eigenschaften versehen, wie die Freiheitsgrade der Bauteile oder die Schnittstelle zur Steuerung.
Modellieren ohne Formeln
Selbst die Umsetzung komplexer Modelle ist mit Werkzeugen wie MapleSim oder industrialPhysics einfach möglich. MapleSim stellt zum Beispiel verschiedene Bibliotheksbausteine wie Massen, Gelenke, Federn und Dämpferelemente zur Verfügung. Damit können die Modelle einfach und intuitiv erweitert und verfeinert werden. Die Modellgleichungen erstellt das System im Hintergrund. Eine B&R-App in MapleSim ermöglicht den automatisierten Export des Modells inklusive CAD-Daten in Automation Studio. Dort kann der Anwender die Maschinensoftware hinsichtlich Motorauslastung und Reglereinstellung am digitalen Zwilling testen. Die Bewegung wird über die mitgelieferten CAD-Daten im 3D-Format im Visualisierungstool B&R Scene Viewer dargestellt. „Test und Fehlerdiagnose gestalten sich damit für den Softwareentwickler sehr einfach“, sagt Zehetleitner.
Einen ähnlichen Zugang bietet das Simulationswerkzeug industrialPhysics. Das Werkzeug integriert eine Physik-Engine und kann damit die Physik näherungsweise simulieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Echtzeittauglichkeit der Simulation. „Gerade mit solchen Systemen ist es heute möglich, Komplettsimulationen von Maschinen und Anlagen zu erstellen. Auch die Verifikation des Echtzeitverhaltens sowie die Systemauslastung auf der Zielhardware im Hardware-in-the-Loop-Umfeld lassen sich problemlos simulieren“, sagt Zehetleitner.
Automatische Codegenerierung
Neben dem Erstellen eines digitalen Zwillings, spielt die automatische Codegenerierung zum Entwickeln und Implementieren von Maschinenfunktionen am Zielsystem eine wichtige Rolle. Sie sorgt nicht zuletzt dafür, dass sich der Programmieraufwand wesentlich reduziert. Das Werkzeug MATLAB/Simulink eignet sich besonders für die automatische Codegenerierung. B&R hat eine bidirektionale Schnittstelle zwischen MATLAB/Simulink und Automation Studio entwickelt. Mit Automation Studio Target for Simulink muss der Anwendungsprogrammierer nur wenige Mausklicks tätigen: „Er gelangt innerhalb kürzester Zeit von der Entwicklung eines Modells in Simulink zu einem qualitativ hochwertigen Programmcode auf der B&R-Steuerung – und das inklusive ausgereifter Diagnosemöglichkeiten“, sagt Zehetleitner. Mit Automation Studio Target for Simulink lässt sich eine hohe Produktqualität erzielen und gleichzeitig die Entwicklungszeit für die Maschinensoftware erheblich reduzieren.
Offene Schnittstellen
Um mit Simulationswerkzeugen arbeiten zu können, sind offene Standards und Schnittstellen nötig. Nur so können Anlagen ohne Aufwand mit Fremdsystemen kommunizieren. Durch die Verwendung existierender Software wird zudem wertvolle Zeit eingespart. B&R bietet dazu Offenheit auf allen Ebenen und in allen Produkten. Mit dem unabhängigen Industriestandard Functional Mock-up Interface (FMI) ist ein Modellaustausch und die Co-Simulation von Modellen in verschiedenen Entwicklungswerkzeugen möglich. B&R bietet einen Mechanismus zum Importieren von Functional Mock-up Units (FMU) nach dem Standard FMI 2.0 an. „Die FMUs werden nahtlos als Funktionsbausteine in Automation Studio integriert“, so Zehetleitner.
Mithilfe der Simulationswerkzeuge können Modelle auf sämtlichen definierten Szenarien getestet und virtuell vollständig in Betrieb genommen werden. Die komplette Bandbreite von einfachen Logikabläufen bis hin zu kritischen Situationen lassen sich austesten und sichern so die Effizienz und Qualität der Software und damit der ganzen Maschine. Die Zeit für die Inbetriebnahme an der realen Anlage verkürzt sich mit einem digitalen Zwilling deutlich und die Risiken für Fehler werden minimiert.
Autor: Carola Schwankner, Unternehmensredakteurin bei B&R
Digitaler Zwilling
Ein digitaler Zwilling ist ein hochgenaues und dynamisches Abbild einer realen Maschine. Anhand von CAD-Daten im 3D-Format wird ein digitales Modell geschaffen, dem alle Eigenschaften und Funktionen der zu entwickelnden Maschine zugewiesen sind – vom Material über die Sensorik bis hin zur Bewegung und Dynamik der realen Maschine. So kann das Verhalten der Maschine in Echtzeit simuliert sowie Fehlfunktionen und Optimierungspotenzial erkannt werden, ohne einen kostspieligen Prototyp anfertigen zu müssen.